Entlang der ganzen Nacht - EIN WARMER WINTERMANTEL

  »Mit der unentschlossenen Liebe zu einem Menschen ist es doch wie mit einem Wintermantel, den man in einem Geschäft zwischen all der anderen Kleidung entdeckt, und man sich dann, aus welchen Gründen auch immer, dagegen entscheidet, ihn zu kaufen. Und ein paar Tage später merkt man, dass man den Mantel doch gerne gekauft hätte. Also geht man zurück in den Laden und muss feststellen, dass der Mantel fort ist. Von jemand anderem gekauft. Alles, was einem dann noch bleibt, ist das etwaige Glück, den Mantel künftig in einem Secondhandladen wiederzufinden, irgendwann. Abgetragen, benutzt – aber immerhin, für weniger Geld. Haha!«
 »Haha! – Ach, mein lieber Freund! Ich bin froh, dich zu haben. Ich bin so froh, dass wir uns kennengelernt haben. Wie kam das noch mal zustande? Wie war das noch? Wie war das noch mal alles? Erinnerst du dich daran?« 
 Beide vierundzwanzigjährig. Angetrunken und euphorisiert von Wein und Single Malt Whisky, selbstgedrehte Zigaretten rauchend, beide der Länge nach hingestreckt auf den sich gegenüberstehenden Sofas, in dem mit ausgeatmetem Rauch verhangenen Wohnzimmer der Wohngemeinschaft, den Blick gegen die Zimmerdecke gewandt, wahllos vor sich hin philosophierend, zumindest so weit es ihnen, in ihrem gemeinsam erlebten Rausch, noch möglich war. 
 »Seit der Schule schon! Seit der fünften Klasse! Mein Freund, ich erinnere mich, ich erinnere mich ganz genau! Du hattest deinen Eltern unterjubeln wollen, dass ich dir das kleine Kreuzchen in den Arm geritzt habe! Du verrückter Hund! Du Verrückter!« 
 »Ja! Ja, natürlich, ich erinnere mich auch!« 
 »Mächtig peinlich war dir das. Bist zu deinem kleinen Kreuzchen gekrochen. Riesen Ärger hast du bekommen.« 
 »Ja, stimmt, das stimmt!« 
 »Da kannten wir uns noch gar nicht wirklich. Hast mich einfach so mir nichts, dir nichts ausgewählt, weil dir gerade niemand Besseres in den Kopf kam. Hättest ja nun jeden nehmen können!« 
 »Ja, richtig! Das ist völlig richtig!« 
 »Hast dich später entschuldigen müssen bei mir, weil dein Vater sich bei meinen Eltern gemeldet hat, und ich hab auch mächtig Ärger bekommen, weil ja auch keiner wissen konnte, was wirklich passiert war.« 
 »Ja, genau so war es! Aber wie ging es dann weiter? Wie war das noch mal? Was passierte dann, was passierte denn dann?« 
»Mein Lieber, du wirst dir noch dein Gehirn wegsaufen, wenn das so weitergeht! – Aha? Du erinnerst dich nicht? Du erinnerst dich wirklich nicht mehr, mein Bester? Wie es war? Na, von einem Mord war plötzlich die Rede! Direkt in unserem kleinen, beschaulichen Städtchen. So war das! Abgemurkst, der Kleine. Und nichts wusste man. Fanden den Kleinen in dem Wäldchen, hinter dem Sportplatz, nahe unserer Schule. Erinnerst du dich denn nicht?« 
 »Natürlich erinnere ich mich! Wie kann man das vergessen? Ich will es nur hören! Ich will die Geschichte hören, danach ist mir zumute! Erzähl doch weiter, erzähl einfach weiter!« 
 »Aber du kennst doch schon alles! Du weißt doch eh schon alles! Du verrückter Hund, du.« 
 »Das ist mir jetzt egal! Gib mir noch etwas von dem Wein und erzähl mir doch die verdammte Geschichte! Erzähl doch einfach!« 
»Also wirklich ein verrückter Hund bist du! Wirklich, du säufst dir noch dein Gehirn weg! Herrgott noch mal …, erzähl’ ich halt die dämliche Geschichte …, zum tausendsten Mal …«.
 Kopfschüttelnd schüttete er seinem Gegenüber noch etwas Wein in dessen Glas, nahm mit einem übertrieben tiefen Luftholen körperlich und geistig Anlauf und begann dann, durchaus widerwillig, zum für ihn gefühlt tausendsten Mal, die Geschichte des Beginns ihrer Freundschaft zu erzählen. 
 »Aaalso…, mein Lieber, muss ja so ein Jahr nach der Sache mit uns wegen des Kreuzchens gewesen sein …, da fanden sie diesen Jungen, tot, in dem Wäldchen, neben dem Feld. 
 War zwei Jahre jünger als wir. Grässlich zugerichtet muss der gewesen sein. Und der Teufel ging plötzlich um. Der wahrhaftige Teufel kehrte ein, in unser kleines beschauliches Städtchen. 
 So misstrauisch waren die Leute plötzlich jedem gegenüber. Waren sich alle sicher, dass es einer aus unserer Mitte gewesen sein musste, der den Kleinen so zugerichtet hatte. Mein Gott! Was waren das für schreckliche Zeiten … so ein grauenvoller Winter. 
 Wir durften bei Einbruch der Dunkelheit nicht mehr vor die Tür und selbst im Hellen zuckte man zusammen, wenn einer von hinten kam. 
 Und dann, eines schönen Tages, tadaaa und bämbäm! Mussten wir zwei Racker nach dem Unterricht noch nachsitzen, haha! Die beiden Haudegen. 
 Hatten unabhängig voneinander unseren Schabernack mit den Lehrern getrieben und Winter war’s ja schon, kurz vor Weihnachten und schnell wurde‘s dunkel. 
 Da kam es also, dass wir zwei gleichzeitig nach den abgesessenen Überstunden in das Untergestell für die Fahrräder auf dem Schulhof kamen und schauten uns erst mal argwöhnisch an. Hatten uns ja noch nie viel zu sagen gehabt, nach der ganzen Geschichte, die vorgefallen war, ein halbes Jahr zuvor, wegen des Kreuzchens.
 Aber dann, wissentlich, dass wir den gleichen Weg zu gehen hatten, den Weg vorbei an dem Wäldchen und dem Ort, wo man den Kleinen gefunden hatte, da kam die Angst in uns hoch und das Wissen um das Glück, doch nicht allein den verfluchten Weg gehen zu müssen. 
 Was für ein schrecklicher, grauenvoll dunkler Winterabend, an dem wir beide gleichzeitig die Schlösser unserer Fahrräder öffneten und die Kälte dabei, diese schreckliche Kälte, die in dem Verschlag das Metall überzogen hatte. 
 Mit Handschuhen konnte man die Schlösser nicht öffnen und dann mit bloßen Fingern ..., Gott, ich erinnere mich, wie alles in diesem Moment eine einzige grausliche Kälte war und ich fürchterlich sauer auf mich war, weil ich völlig unsinnig diesen dämlichen Schabernack getrieben hatte.  – Nun ja …, der Leibhaftige muss es gewesen sein! Wie er eh in diesem Winter über unser Städtchen kam und seinen Spaß hatte, hier und da. 
 Der Vater vom Thomata Georg verstarb in dem Winter, einfach so, auf der Straße zusammengeklappt! Nichts hatten sie später als Grund dafür gefunden. Kerngesund war der!   Vielleicht einfach ausgerutscht und unglücklich gefallen. Es war ja alles voller Eis, in der ganzen Stadt, in diesem Winter. 
 Mit Schlittschuhen hätte man die Straßen abfahren können. Und selbst die Feldwege, so vereist war alles. Zentimeterdick, sodass die Leute, wenn sie sich raus wagten, sich von Laternenmast zu Laternenmast hangeln mussten. 
 Auf allen Vieren sah man die Leute nach Hause kriechen, wie elendiges Vieh. 
 Die Straßen waren voll von Menschen, die wie Vieh daher krochen – wie eine jämmerliche Schafherde – und das Gelache noch zu Anfang, als sich alle wunderten, über's verrückte Wetter und den vielen Schnee und das Eis und wie man sich so auf allen Vieren begegnete und zunickte und jeder darüber Witze machte, dass man sich ganz ungewohnt mal auf allen Vieren auf der Straße begegnete.
 Aber irgendwann verschwand das Lachen und das Zunicken, bei dem ganzen nicht enden wollenden Dreckwetter und dem zu vielem Grau und dem zu vielem Eis und eh alles war einfach zu viel und überhaupt viel zu anstrengend. 
 Da kroch man nur noch schweigend und mürrisch aneinander vorbei und voreinander her. 
 Was für ein grauenvoller Winter … das war ja gar nicht mehr menschlich, was dieser verrückt gewordene Winter unserem Städtchen abverlangte. 
 Die armen alten Leute. Und was für eine schreckliche Beerdigung das dann war, von dem Kleinen, damals, in der Kälte, mit dem eisigen, zugefrorenen Boden, in dem sie kaum das Loch ausheben konnten.« 
 »Ja, ich erinnere mich, ich erinnere mich ganz genau und sehe alles vor mir! Ein fürchterlicher Winter war das …«
 »Die Bäcker Anna hatte eine Totgeburt und dem alten Egon ist sein Hof abgebrannt. So ein bitterer Winter war das. 
 Irgendwie sollte alles nicht sein in diesem Winter. 
Und wir zwei in dem Verschlag, mit den eisigen Ketten, die fast gleichzeitig zu Boden fielen, klirr! klirr! Und dann das Festmachen, um die Stange am Fahrradsitz und das Wissen, dass wir gleich gemeinsam gehen mussten und doch froh waren, dass wir nicht allein gehen mussten und der Atem, neblig und fast gefrierend, und dann endlich hatte man die Handschuhe wieder an, über den vom kalten Metall ganz starr gewordenen Fingern und dazu die Angst vor dem Wäldchen und dem Weg, diese schlimmen Gedanken …- ach, was man alles mit sich herumtragen musste, in diesem Winter.«
»… Und ich sag’ dir, ich war auch froh zu wissen, dass wir den Weg gemeinsam gehen konnten. Sehr, sehr froh war ich darüber – mein Freund.«
 »Ja, und angesehen haben wir uns schweigend und sind einfach zusammen raus aus dem Verschlag und raus in die Dunkelheit und die vom Wind draußen noch viel kältere Kälte, von wo aus man schon das Wäldchen im Dunkel wie Schatten sehen konnte …– und wie uns das Herz ging …– Gesprochen haben wir nicht, aber ich wusste, dass dir genauso zumut' war, dass dir das Herz auch so ging, dass es uns beiden beinahe stehenblieb. 
 Die Fährräder mussten wir schieben, weil man vom Schulhof kommend erst den kleinen Feldweg entlang musste, bis zur asphaltierten Straße. Aber an Fahren war ja eh nicht zu denken, bei dem ganzen Schnee Und der kleine Pfad, wegen der Kälte ganz hart gefroren, mit den vielen Dellen drin, und vereist war ja eh alles, sodass man erst mal an dem Wäldchen auf dem Hügel vorbeimusste, mit den paar wenigen Bäumen, die da seit Jahren immer so unbedarft neben dem Feld und der dahinter liegenden Straße gestanden hatten. 
 So unbedarft und ohne Geschichte standen die immer da, dass man dachte, also diese Bäume, diese Bäume könnten wirklich niemals ein Wässerchen trüben – und jetzt, mit der Geschichte, und weil doch der Junge zwischen ihnen gelegen hatte, da waren die paar Bäume plötzlich wie die vom Leibhaftigen eigenhändig Gepflanzten. Das Böse war in diese Bäume gefahren, der Teufel hatte sich dort sein Nest gebaut, mitten hinein in unsere kleine liebe Stadt. 
 Da in der Dunkelheit den Pfad entlang, von Weitem sah man sieh schon schemenhaft, die paar wenigen, jetzt bösen Bäume, wie ihre Äste im Wind hin und her schaukelten und immer näher kamen wir den wankenden Bäumen und ihren wankenden Ästen, als wären sie zu Vorsicht mahnende Arme: Still, ihr Burschen! So geht doch langsamer! So seid doch still, ihr Törichten! 
Und still waren wir. Keiner von uns sagte etwas. 
 Dabei wär es schon mal an der Zeit gewesen, du dämlicher Hund du, darüber zu sprechen, dass du damals deinen Eltern erklären musstest, woher das Kreuzchen auf deinem Arm kam und weil es dir so unangenehm war zuzugeben, dass du es selber warst, weil du dachtest, nur Verrückte machen so was, die stecken dich sofort ins Heim für Irre Gewordene, dachtest du. Aber dein Vater, der hatte am Abend das kleine pochende Kreuzchen, was nicht so recht verheilen wollte, auf deinem Arm entdeckt, da hattest du ihm einfach erzählt, einer aus der Schule sei es gewesen und aus irgendwelchen Gründen, ja, aus welchen Gründen eigentlich? Aus welchen Gründen eigentlich? Denk mal darüber nach! Du hättest doch wirklich verdammt noch mal jeden nehmen können! Und dann legt der Zufall dir meinen Namen in den Kopf! Das konnte doch nicht mit rechten Dingen zugehen! Nein, nein, nein! Da waren höhere Mächte am Werk. Je mehr ich darüber nachdenke, Teufel noch mal, es musste so sein, verstehst du? Es musste alles genau so sein!«
 »Ja, verdammt, recht hast du! Alles musste genau so sein. Wie seltsam die Dinge doch manchmal sind …«
 »Und dann losgerannt sind wir! Wie vom Leibhaftigen in den Arsch gebissen! Einfach gleichzeitig ab durch die Mitte, weil es uns nicht mehr gehalten hat, weil das alles viel zu viel war, da an dem Wäldchen vorbei, nicht auszuhalten war das mehr! Und weg, so schnell wie möglich, nur weg! Hingefallen sind wir, auf der vereisten Erde, über uns gestolpert, immer mit den Händen am Fahrrad, die Knie und Schienbeine haben wir uns aufgestoßen, so oft sind wir über uns hinübergefallen, beim Rennen an dem Wäldchen vorbei und geschrien haben wir, so laut, dass man es in der ganzen Stadt hören konnte und die Leute hielten an, auf den Straßen wegen des Geschreis, wie sie sich da auf allen Vieren entgegen krochen und schauten erschrocken in Richtung des Wäldchens: »Nicht schon wieder«, hoben sie bittend die Arme gen Himmel »bloß nicht wieder eines von den Kindern«, weil wir so laut geschrien haben, weil die Angst doch irgendwohin und hinausmusste und weil in diesem Winter jeder aufschreckte, wenn Schreie von Kindern so plötzlich aus der Dunkelheit gellten. 
 Sie kamen zum Wäldchen gekrochen, bei all dem zentimeterdicken Eis, weil sie sich darüber vergewissern wollten, was passiert war – bestimmt dreißig an der Zahl, krochen den Hügel hinauf in der Eiseskälte …, aber als sie ankamen, da waren wir schon über alle Berge – und sie fanden nichts, außer den im kalten Wind vor sich hin schwankenden paar Bäumen, die schon längst wieder wirkten, als konnten sie niemandem etwas zu leide tun. Herrje, die paar wenigen Bäume da auf dem Hügel …– und weil es allen schlussendlich reichte, weil es irgendwann auch mal gut ist, weil eh alles viel zu viel war, in diesem völlig vermaledeiten Winter, haben sie das ganze verdammte böse Wäldchen innerhalb der nächsten Tage auseinandergenommen und ihm den Garaus gemacht. 
 Drei Tage lang. 
 Drei Tage lang konnte man das Heulen der Motorsägen hören, wie ein Schwarm wütender, riesenhafter Wespen, die dabei waren, in dem Wäldchen ihren Verstand zu verlieren. 
 Selbst in der Nacht war es zu hören, das Knattern und Aufheulen der Motoren beim Aufsetzen der Sägeketten an die Stämme. Das langsame Ächzen der irgendwann nachgebenden, einknickenden Bäume, wenn der Fall nicht mehr aufzuhalten war. Wie sie sich der Schwerkraft hingeben mussten. Das erschöpfte letzte Ausatmen der Blätter, wenn die Baumkronen endlich zu Boden gingen und aufschlugen. Das Hacken der Äxte, im Rhythmus der Schläge der Männer, die dort schufteten … – Drei volle Tage hörte man dabei zu, wie der Teufel kreischend und jammernd in seine Einzelteile zerlegt wurde. 
 Zerhackstückelt, des Satans Ausgeburt – und das völlig zu Recht! So muss man es schon sagen …   – und dann …, ja, dann …, wurde es ganz still – und eine angenehme Stille war das. Nach dem ewigen Gekreisch der Sägen und dem Geknatter der Traktoren, die das Holz wegschafften. 
 Eine ganz wundervolle, berückende Stille, die sich in einem selbst und der ganzen Stadt ausbreitete und das Eis langsam verschwinden ließ und das Misstrauen und mit der Angst auch den kalten Wind …– und dann, irgendwann, war es fast unbemerkt Frühling geworden. 
 Und danach wurde es ein herrlicher, warmer Sommer. Mit seiner späten Dunkelheit und den vielen Tagen und Abenden am See, die wir zusammen mit den anderen verbrachten – als Freunde.« 
»… Ja, wirklich …, ein herrlicher Sommer wurde das damals dann noch …«             
 
  Am nächsten Morgen. Beide waren in Erinnerungen an alte Zeiten eingeschlafen. 
 »Jetzt schau sich einer mal deine Schuhe an …«, lachte der eine, der schon wach war und stehend seinen Freund betrachtete, der immer noch liegend, seine für das Sofa zu langen Beine und die zum Schlafen nicht ausgezogenen, völlig verdreckten Schuhe über die Lehne hängen ließ. 
»Die sind ja völlig hinüber! Die Sohlen haben Löcher und hinten sind die Hacken fast bis zum Leder heruntergelaufen. Die solltest du mal schleunigst zu einem Schuhmacher bringen, mein Bester!«
 »Die sind schon noch völlig in Ordnung!«, schnaubte der andere verächtlich zurück. 
 Durch das geöffnete Fenster, von der Straße zu ihnen hinauf, drang plötzlich ein ohrenbetäubender Lärm, wie von kreischenden Motorsägen. 
 Mit offen stehenden Mündern und vor Schreck geweiteten Pupillen starrten sie sich gegenseitig an. 
 Die beiden Freunde einigten sich schnell darauf, dass es mehrere Motorräder gewesen sein mussten, die gleichzeitig laut aufheulend anfuhren, nachdem die Ampel an der Kreuzung, direkt unterhalb der Wohnung, auf Grün umgesprungen war.    

Entlang der ganzen Nacht - ERZÄHL MIR VON DEM KREUZ

»Also, das Kreuz. Erzähl mir davon.«, sagte sie und strich mit ihrer Zungenspitze über die rötlich gefärbte Narbe, in der Form eines kleinen Kreuzes, auf seinem Unterarm. 

 »Da gibt es nicht viel zu erzählen, mein Engel, mein Schatz.« 

 Nackt, wie sie beide waren, verliebt, die Körper feucht vom noch vor kurzer Zeit vollzogenen Beischlaf, gerade mal eine Viertelstunde her. Die Luft säuerlich, von genitalem Geruch und ihrer beider Schweiß. 

 Durch das einen Spalt geöffnete Fenster, aus der Nacht zu ihnen herauftönend, die Schritte von Betrunkenen, Heimkehrenden, Aufbrechenden, deren Lachen, das Übergeben, das Zetern.

 Das Da Unten, ihrer Kontrolle entzogen, an ihnen vorbeiziehend, ging sie beide, in ihrem geschützten Raum, nichts an. Es ließ sie kalt, vertiefte ihre gefühlt unantastbare, in sich zufrieden ruhende Zweisamkeit. 

 »Also, das Kreuz. Erzähl mir davon.«, sagte sie nochmals und strich mit ihrer Zungenspitze,  über die rötlich gefärbte kleine kreuzförmige Narbe auf seinem Unterarm. 

 »Da gibt es wirklich nicht viel zu erzählen, meine Süße, mein Roter Wein, mein Elixier, du und dein schöner Körper.«  

  Nackt, wie sie beide waren, noch betäubt von den Berührungen, dem Aufmachen, dem Zulassen, gerade mal zwanzig Minuten her, die Luft schwer, vom Atmen, von dem Unausgesprochenen, als Wasser in kleinste Teile zerlegt, sich Wege suchend, durch die Spalten und Risse in dem bröckelnden weißen Putz an den Wänden, um hinauszufinden, zu denen, die unten gingen, unentwegt, lachend, palavernd. 

 »Es erinnert mich…«, sagte er dann, »es erinnert mich an das, woran ich glauben wollte.« 

 »Woran wolltest du denn glauben?« 

 »Ich wollte an Linien und Formen glauben… – und an die Schönheit, die man durch sie erschaffen kann.« 

 »Was bedeutet das?« 

 »Im Grunde nichts.« 

 »Versuch es mir zu erklären…, erklär es mir doch…«

 Wieder verging einige Zeit in der nur Geräusche durch den Fensterspalt zu ihnen heraufdrangen. Das feiste Lachen, die schnellen Schritte, das Kläffen der Hunde, das irgendwo Hingehen, der gemeinsame nicht überhörbare Austausch von Anderen, und sie waren froh, dass sie nicht Teil davon waren – nicht daran teilhaben mussten. 

 »Nun…ich erkläre es dir…ich versuche es…« – 

 Er hielt kurz inne, und begann zu erzählen: 

 »Ich nehme Dich und alles in Linien war. 

Du bestehst aus Linien. Für mich zumindest. Sie kreuzen sich, sie entfernen sich voneinander, sie finden zusammen. Wie ein Muster, eine Zeichnung.« 

 »Versuch es mir zu erklären.« 

 »Ich versuche ja es dir zu erklären…« 

 »Ja, bitte…versuch doch es mir zu erklären.« 

  »Ich nehme es so wahr, also rein oberflächlich…vorerst…Du bestehst aus Anordnungen, von Dreiecken und Quadraten und Kreisen, sie fügen sich ineinander, sie decken sich zu, sie schaffen sich gegenseitig Raum, sie ergänzen sich. 

 Die Anordnung all deiner Bestandteile, die Geometrie deiner Einzelteile, sie deckt sich mit meinen Vorstellungen von Alldem, was ich schön finde. Das sehe ich in Dir. Sich mit dem deckend, was mich seitdem ich schauend durch die Welt gehe, geprägt hat. Es ist alles da. Ich sehe dich und Alles in Anordnungen aus Linien – in sich verschlungen. Es ist wundervoll.

 Und ich kann diesen Linien folgen – wenn ich darf.

 Sie führen irgendwohin. 

 Und dann folge ich diesen Linien, die im Grunde, für sich allein, nichts bedeuten, aber ich folge ihnen, dorthin, wo das Unter Den Linien liegt. Dorthin, wo die Linien nicht relevant sind, sie sind nur dazu da, mich dorthin zu bringen. Dorthin gehe ich dann und lasse mich dabei von den Linien leiten. 

 Dann betrete ich das Unter Den Linien, sozusagen, die Wirklichkeit – wie einen Raum – und dann schaue ich mich um. 

 Umgeben von all diesen Linien, die für sich genommen Nichts und Alles bedeuten – und ich schaue mich staunend um – und Jeder und Alles in Sich, ist auf seine Art schön. 

 Jeder für Sich – eine Anordnung, einzigartig. 

 Egal wie, einzigartig. Ein Raum.« 

 »Bitte…, erklär es mir…«, fragte sie nochmals und eigentlich nur, weil sie es mochte bei ihm zu liegen und seine Stimme zu hören, während sie mit ihrem Körper neue Lücken in seinem Körper suchte, um näher, noch näher, bei ihm zu sein. 

 »Es ist so…, also, ich denke…im Grunde zweifle ich an Menschen - irgendwie …, das glaube ich zumindest manchmal. Also mich eingeschlossen. Mich verabscheue ich eigentlich am meisten. 

  Menschen richten so viel seltsame Dinge gegen sich - und miteinander an – ich verstehe es nicht. 

 Ich sehe uns so fürchterlich angestrengt Dinge verrichten. Ich beobachte uns. Ich erkenne unsere angelernten Bewegungen, unsere eingeprägten Grimassen, die nachgeahmten Regungen. Die funktionierenden Körper, die stierenden Augen.  

 Ich nehme die Kleinigkeiten war – und ich hasse es – was fürchterlich ist. 

 Ich würde lieber Gar Nichts wahrnehmen. 

 Ich hasse die Zurückhaltung, das Nachgeben, das Sich Einfügen. Und mein eigenes Unvermögen in diesen Dingen. 

 Es verstärkt dieses Gefühl noch zusätzlich. 

 Ich wünschte mir sehr, es wäre nicht so…, aber – weißt Du, damals, an dem Tag, an dem mein Großvater starb, da gab es einen irgendwie für mich wichtigen Moment in meinem Leben. 

 Ich war sehr spät noch aus dem Fenster meines Zimmers, im ersten Stock unseres Hauses gelegen, in die Nacht hinausgestiegen. 

 Ich hatte da so einen Weg, an der Aussenwand, an so einem Gerüst für Pflanzen, entlang.

 Ich weiß nicht mehr, was meine Eltern dort wachsen lassen wollten, Kletterrosen, oder so Zeugs, wahrscheinlich – aber ich hatte eben diesen noch nicht von Pflanzen bewachsenen Weg, an diesem hölzernem Gerüst hinab, den ich immer nutzte, wenn es mir zu eng wurde in meinem Zimmer und meine Eltern schliefen, oder unten vor dem Fernseher saßen. 

 Also, ich bin dieses Gerüst hinuntergestiegen, raus in die Nacht und ging umher, weil mir halt danach war. 

 Es war sehr dunkel in dieser Nacht, wahrscheinlich weil auch der Mond nicht wirklich schien und ich lief vorbei, an den wenigen Häusern unseres Dorfes – und sah in die Fenster hinein. Also, beim Vorbeilaufen. 

 Ich wollte es nicht, aber ich musste in diese Fenster hineinsehen. 

 Ich wollte verstehen, was dahinter passierte…– Schläfst du, schläfst du schon?«

 »Nein, nein, ich höre dir zu. Ich bin hier. Und ich höre dein Herz schlagen, wie ich hier liege. Es schlägt und es ist gut. Und ich höre dir zu.« 

 »Also, ich bin dieses Gerüst hinuntergestiegen und bin dann raus in die Nacht, rein in das Dorf mit seinen Häusern und bin ran an die Fenster, die zu den Häusern gehörten und sah in sie hinein. 

 Ich habe mich nicht wohlgefühlt dabei, aber ich konnte nicht anders. 

 Die Straßen waren leer und still und die Lampen standen still und leuchteten, einfach so, vor sich hin, wie jetzt vielleicht mein Herz einfach so vor sich hinschlägt, haha.« 

 »Haha.«, lachte sie zurück. 

 »…Ja…Und dann sah ich so ein richtig großes Fenster, vom Boden bis, ja, bestimmt weit über mannshoch reichend, so ein großes, wirklich großes Fenster, mit einer sehr dünnen milchigen Gardine davor, so dünn, dass man, obwohl sie zugezogen war, in das Innere des Raumes blicken konnte.       

 Diese Gardine, die brachte gar nichts. 

 Also, als Schutz vor einem, der da reinschauen wollte, in der Dunkelheit und dem Licht dahinter, das in dem Haus war. 

 Man konnte ganz einfach durch sie hindurchsehen. Ich bin nah ran, an das Fenster, was mutig war, denn ich war schon sehr nah dran, so nah, dass man hätte sagen können: da traut sich jetzt aber mal einer was. 

 Der ist jetzt aber schon ganz schön weit gegangen…, da spielt einer mit dem Feuer gerade, dass er da so nah ans Fenster rangeht. Aber…– Du… schläft du? Schläfst du schon?« 

 »Nein, nein. Ich bin hier. Ich höre dir zu. Ich bin hier und höre dir zu.« 

 »Also, hinter dieser Gardine, da sah ich einen Raum. Ein Wohnzimmer offensichtlich. 

 Eingerichtet mit Möbeln und allerhand Zeug. 

 Irgendwo mussten auch die Leute gewesen sein, die in diesem Haus lebten, da ja Licht brannte und es, naja, irgendwie belebt wirkte, aber in diesem Moment war niemand zu sehen, in diesem Raum. 

 Die Kinder schliefen vielleicht schon. 

 Also, ich ging davon aus, dass da auch Kinder in dem Haus waren, denn es war ja ein sehr großes Haus und ich dachte, für einen allein, oder für zwei, wäre das dann schon ein sehr großes Haus… – 

 Naja, jedenfalls sah ich also durch die Gardine in diesen Raum. 

 Da stand so eine Kommode, aus dunklem Holz, so ein sehr mächtiges Ding, links an der Wand – und ihr gegenüber stand ein Tisch, ein auffällig schöner, großer Tisch, auch aus dunklem Holz. 

 Der war so groß, dass man sicher davon ausgehen konnte, dass da nicht nur zwei drinnen waren, oder jemand alleine, in diesem Haus. Also, ungefähr so groß war dieser Tisch. 

 Ja und der Boden, der war mit weißem Teppich ausgelegt, also, ich erinnere mich, fast so wie Schafswolle, aber weniger robust, eher samten. 

 So ein guter weißer Teppich eben, über den man absolut niemals mit gerade noch getragenen Straßenschuhen gehen würde.

  Immer nur barfuß - so vorsichtig, irgendwie, mit gewaschenen Füßen, oder mit frisch gewaschenen Strümpfen, oder den Hausschuhen - also zumindest, andächtig.

 Weil einem wahrscheinlich, als Erstes in diesem Haus  

beigebracht wird, dass man nie und nimmer,  auf 

keinen Fall, unter gar keinen Umständen, über diesen weißen Teppich, mit eben noch getragenen Straßenschuhen gehen darf.«

 »Haha…«, lachte sie.

 »…und mir gegenüber, also gegenüber meiner Stelle, an dem Fenster, von der aus ich in diesen Raum hineinschaute, da stand so eine weiße Kerze. 

 So ein richtig dicker Brocken von Kerze, ja, bestimmt so kräftig wie eine halb ausgewachsene Birke. Die flackerte da still vor sich hin. In diesem Raum, in dem die Menschen nicht waren, die sicherlich in diesem Haus lebten. 

 Beziehungsweise, die Kerze flackerte gar nicht wirklich. Sie stand im Grunde einfach nur da, von jemandem aus dem Haus genau dorthin gestellt. 

 Naja, beziehungsweise die Flamme stand. Also, im Grunde genommen, bewegte sich die Flamme gar nicht, weil ja niemand in dem Raum war, in diesem Moment, mit der Kerze und an ihr vorbeiging – und man flackert ja auch gar nicht, wenn niemand an einem vorbeigeht. 

 Nichts flackerte an dieser Kerze, die von jemandem, in diesem Haus, genau dorthin gestellt worden war.  

 Diese Kerze, mit ihrer Flamme, die von jemandem in diesem Haus entzündet worden war, stand da – und zudem konnte da ja auch gar nichts anderes noch groß durch den Raum zum Beispiel wehen, oder so, und  Bewegung in die Flamme bringen, weil, die Fenster waren ja auch geschlossen. 

 Also, ich sah durch das geschlossene Fenster und sah diese Dinge und noch Anderes an Einrichtung in diesem Raum rumstehen. 

 Ecken und Kanten, Längen und Breiten, und wie sie sich einfügten, in diesen Raum, in den sie hineingestellt worden waren, von irgendwem, der sich, wahrscheinlich, in diesem Moment, irgendwo in diesem Haus aufhielt, oder Sonstwem, dem diejenigen, die sich in dem Haus aufhielten, gesagt hatte, wo die Dinge hinzustellen waren.

 Wie auch immer, diese Stille in dem Raum, und dass da nur diese Ecken und Kanten waren und dann keiner, einfach so gar keiner dort war, der da hindurchlief, niemand, der sich etwas zu trinken holen wollte, da er oder sie gerade Durst verspürte und trinken musste, weil er oder sie wusste, dass es nicht gut ist, zu wenig zu trinken, dass es dem Körper und dem Denken einfach nicht gut tut, oder einer oder eine, der oder die, sonst wie, wie auch immer, Leben in diesen Raum bringen wollte, einfach geradewegs zu dieser Gardine hinlaufen wollte, um sie aufzuziehen, um direkt in mein Gesicht zu blicken, weil da jemand, so mir nichts dir nichts, ungefragt, hinter dem Fenster in den Raum glotzt… – 

das Alles machte mich unendlich fertig. 

 Und da wurde mir bewusst, dass ich beizeiten nie ein Raum sein will, durch den sich niemand oder nichts bewegt. 

 Nie und nimmer mag ich nur ein Raum sein, in den irgendjemand, lediglich nur etwas hineinstellt und dann dort nicht mehr hindurch geht. 

 Diese unbewegte Stille. Das muss man sich mal vorstellen. So seltsam es klingen mag, aber ich möchte unbedingt, dass es möglich ist und bleibt, dass jemand durch mich hindurchlaufen kann. Verstehst Du? 

 Ich will nicht nur ein Raum sein, in dem einfach etwas steht – und keiner will hindurch. 

 Und ich selbst will auch durch Räume hindurch gehen. 

 Wenn man alles nur hinnimmt, wie es irgendjemand hineingestellt hat, wenn man sein Leben einfach so als von jemandem vollgestellt akzeptiert, oder das Gegenüber nur danach bewertet, was in es hineingestellt wurde, ohne sich gegenseitig durch die eigenen Räume gehen zu lassen, dann betrachtet man sich doch nur selbst, wie in einem Schaufenster. Oder nicht?

 Nichts kommt mehr in Bewegung dadurch, oder?

 Man darf sich nicht zu viel selbst betrachten. 

 Ich glaube, es ist ein großer Fehler, wenn man sich zu viel selbst betrachtet. Und nicht andere auch hindurchgehen und vielleicht, im besten Fall, sich staunend umschauen lässt. 

 Aber man muss dafür ja eben auch andere in sich 

hineinlassen wollen und können und dürfen.

 Und wenn man in einem Raum ist, der zu jemand anderem gehört, dann bekommt man vielleicht irgendwann einen kräftigen Durst und man weiß ja, dass es einem nicht gut bekommt, wenn man zu lange zu durstig ist, und dann muss man endlich durch diesen Raum durch und sich sein Glas Wasser holen, und dabei vielleicht eine Kommode umstellen, bis ein anderer sie wieder woanders hinstellt – und die Flamme einer Kerze, die in dem Raum steht, in Bewegung bringen – und dann will man vielleicht zum Fenster gehen, weil man ahnt, oder spürt, rein intuitiv, dass man genau in diesem Moment, diesen dünnen Vorhang zur Seite ziehen sollte, weil da einer vor dem Fenster steht und hineinschaut und vielleicht auch hinein will, in diesen gleichen Raum.  

 Verstehst du? 

 Langweile ich dich? Schläfst du schon?«

 »Nein, nein«, sagte sie, »ich versuche nur zu verstehen, was du mir erzählst. Ich verstehe es glaube ich nicht…ganz… Vielleicht bin ich aber auch einfach nur zu müde. Aber dein Herz schlägt. Und es ist gut. – Aber…, bist du denn noch in diesen Raum hinein…, an diesem Abend…? Hat es dich da noch hineingezogen? Hast Du Dich das getraut?« 

 »Nein, nein!…Das ich habe mich natürlich nicht getraut! 

Das hätte ich mich nie getraut! - Aber dieser Sog, das Gefühl, dieses Drängen machte mich beinahe verrückt. 

 Gott, wie gerne wäre ich da einfach rein und durch diesen Raum gegangen. Aber das konnte ich ja nicht! Dafür hatte ich einfach zu viel Angst…, davor, dass man mich entdecken könnte. 

 Aber in diesem Moment, hätte ich nichts lieber getan, als Bewegung in diesen Raum und in diese Flamme zu bringen. – 

 Mmh…, warte, ich erzähle dir noch eine Geschichte, ja?« 

»Ja, bitte...Erzähl mir noch eine Geschichte. Damit ich gut einschlafen kann...«, erwiderte sie.   

»Es war einmal.« 

 »Es war einmal...Ja? Und weiter?«   

»Ja, das war es schon.«, lachte er. 

 »Wie? Es war einmal?« 

 »Das war die ganze Geschichte…, denk mal darüber nach.« 

 Ein Kuss auf ihre Stirn, der Geruch ihrer Haare, ein feistes betrunkenes Lachen, durch den Spalt des geöffneten Fensters von der Straße hallend.   

»Du…, schläfst du schon?«  




 


Entlang der ganzen Nacht – ROTIERENDES ORANGE

Sie weinte – 

und sie weinte sich hemmungslos aus.

 Sie waren für eine Woche in den Süden gefahren und saßen, an diesem vierten Tag ihrer Reise, am Rand des Marktplatzes in einem kleinen Bergdorf.

 Sie weinte wegen der Umstände im Allgemeinen und über ihr Verhältnis zum Lebendig Sein.

 »Mein Schatz«, sagte er, »sei nicht traurig. Lass uns tanzen. Lass uns auf den Marktplatz gehen und tanzen. Gleich da vorne.«

 Er liebte sie sehr. 

Ihr inbrünstiges Wesen und ihr einnehmendes Lachen konnten ihm die Schwere von den Schultern nehmen. 

 Es glättete seine oft in nachdenkliche Falten gelegte Stirn, sein Herz schlug ruhig in ihrer Nähe. 

 Ihr Geruch war angenehm, süßlich, in keiner Weise aufdringlich. Ihr Intellekt war bemerkenswert und konnte ihn mit Leichtigkeit herausfordern.

 Sie neigte zu einer liebenswerten Form von Preisgabe, wie in diesem Moment, auf dem Marktplatz, wo sie, bewegt von dem Ausblick auf die ins Licht der untergehenden Sonne getauchten Hügel, sich gedrängt fühlte, ihm ihr Herz auszuschütten. Man hatte ihm einst gesagt, man müsse nur auf den richtigen Moment warten.


 An dem Tag, als er sich in sie verliebte, war er aus purer Langeweile, wie er es oft tat, wenn er nichts mit sich und dem Tag anzufangen wusste, in die Bibliothek gegangen. 

Das Bibliotheksgebäude lag etwas außerhalb am Rand der Stadt. 

 Er mochte den Fußweg, der sich bei seiner üblichen Schrittlänge und mittlerer Schrittgeschwindigkeit, gut fünfundvierzig Minuten durch zwei kleine Parkanlagen und von Bäumen begrenzten Straßen durch die Stadt zog.

 Auf dieser Strecke konnte er in aller Ruhe seinen Gedanken nachhängen, ohne dass der Fluss seiner Schritte von zu vielen Hindernissen, Straßen und Ampeln unterbrochen wurde.

 In der Bibliothek angekommen, nach dem Öffnen der Eingangstür, wurde sein Gesichtsausdruck ernst und entschlossen, was den Eindruck vermitteln sollte, er wisse genau wonach er suche. Das wusste er aber meist nicht und so ließ er sich, wie gewohnt, hinter dem Eingang des zweistöckigen Gebäudes, an den Büchern der Technik, der Physik und der Psychologie vorbei, zu den Klassikern und Lyrikbänden treiben.

 So tat er geschäftig, nahm eines der Bücher aus den Regalen, blätterte darin, nahm ein paar der überflogenen Worte auf, klappte das Buch wieder zu und stellte es mit einem dem Gewicht der vermeintlich neugewonnenen Erkenntnis angemessenen Einatmen zurück an seinen Platz.

 Er ging zu dem Bereich mit den Tageszeitungen, setzte sich mit dem Papier in der Hand, konzentriert dreinschauend, neben den alten Herren nieder, die hier, genau wie er, ihre freie Zeit totschlugen, mit dem Sich Vergewissern über das Geschehen in der Welt, den Nachrichten, den Überschriften, den Skandalen und politischen Entscheidungen.

 Nachdem er eine Weile die stille Gesellschaft genossen hatte, machte er sich auf in das obere Stockwerk, wo die Schriften zu Theater, Musik und Kunst untergebracht waren.

 Er schritt an den Reihen von möglichen Lektüren vorbei, ließ seine Hand über die Bücherrücken wandern, bis sein Blick auf einen Titel oder Namen fiel, der ihn neugierig machte und das Spiel begann von vorn: das ziellose Aufblättern, das Betrachten der Buchstabenreihen ohne wirklich zu lesen, das Schütteln des Kopfes, das Staunen über ein zweifelloses Talent, das gehaltvolle Einatmen beim Zurückstellen des Buchs.

 Er setzte sich an eine der elektronischen Anlagen, die auf Tische gestellt, zur Recherche im Gesamtarchiv dienten, um sich von einer Eingebung geleitet überraschen zu lassen und dann, abgründig aus dem Nichts im Raum erscheinend, nahm direkt an seiner Seite, dieses ihm bis dato völlig unbekannte, ihn sofort faszinierende Geschöpf, seinen Platz in seinem Leben ein.

 Sie trug eine Reihe von großformatigen Fotobänden unter dem Arm, die sie zwischen sich und ihn auf den Tisch legte, so dass es ihm möglich war die Titel der Bücher einzusehen.

 Als prüfe er, ob im hinteren Bereich des Raums ein von ihm gesuchtes Buch ausfindig zu machen sein könnte, ließ er seinen Kopf in ihre Richtung wandern und so gelang es ihm, seine Augen flüchtig über ihr Profil wandern zu lassen, ohne dass sie wirklich Notiz davon nehmen konnte, was natürlich nicht stimmte.

 Ihre Haare trug sie lang, zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, in Farbabstufungen von einem hellem Blond an den Haarspitzen in ein dunkles Braun am Ansatz übergehend, widerspenstig abstehende Lockensträhnen an den Schläfen und im Nacken, kleine vergoldete Steckohrringe in den angewachsenen Ohrläppchen.

 Er tippte ein Wort, das es nicht gab, sie griff nach dem obersten Buch, sein Blick fiel auf ihre Hände. Ihre langen, zerbrechlich wirkenden Finger, mit hellrot lackierten Fingernägeln, die ein wenig heruntergekaut waren, aber nicht außerordentlich besorgniserregend, ein schwarzes Haargummi trug sie wie ein Armband am rechten Handgelenk.

 Die ihm sofort gefallenden Hände nahmen das oberste Buch von dem Stapel vor ihr und begannen darin zu blättern. Er bewegte seine Finger auf der Tastatur. 

 Wieder ein verlorener Blick in den Gang, eigentlich nur dem schwarzweiß gestreiften Pullover und ihrer zierlichen Statur gewidmet, jetzt endlich schaut sie zu ihm hin, strahlend hellblaue Augen, über alle Zweifel erhaben, augenscheinlich, offensichtlich, unsagbar, unendlich – da.



 Sie, Lichtstrahl. Drei Tage später rief er sie an. Über längere Zeit wachsend, wurde sie seine feste Freundin.

 In stundenlangen Telefongesprächen, in gemeinsamen Spaziergängen, in Cafés sitzend, wenn er sie zwischen den Vorlesungen in der Universität besuchte, in einem ersten Kuss, der sich erst Tage später ausbreiten sollte, über ihrer beider Körper und sie vereinte, wie er es intensiver noch nicht erlebt hatte.

 Seine Liebe zu ihr empfand er als vollkommen. Drei Jahre blieben sie zusammen. Auf dem sich leer vor ihnen ausbreitenden Marktplatz, mit dem mittig darauf stehenden Steinbrunnen, aus dem, nach den letzten regenlosen Tagen, nur ein klägliches Rinnsal Wasser floss, und an dessen Rund stehend er sie nun liebevoll wiegend im Arm hielt, kam es zum Bruch.

 Ein Entzweigehen, das sich schon lange vorher durch mit bloßem Auge kaum sichtbare Risse, auf der Oberfläche ihrer Geduld, angedeutet hatte.

»Eines Tages wirst du sterben müssen.« sagte sie.

»Ja. Du auch.«, erwiderte er, der sie jetzt langsam, in einer zurückhaltenden Bewegung, um sich selbst drehen ließ, was sich für beide wie ein Tanz anfühlte, aber den anderen wenigen, die an diesem ungewöhnlich heißen Tag, über den Marktplatz spazierten, nicht bemerkbar war.

»Ich befürchte, Du auch.«



 Nach ihrem, wie er im Nachhinein meinte, womöglich leichten Nervenzusammenbruch, kehrten sie mit dem Bus zurück in die Stadt und saßen am frühen Abend im Freien vor einem Restaurant, in einem unbelebteren und von Touristen weitestgehend verschonten Viertel, sich anschweigend, Rotwein trinkend, zusammen.

 Die Luft war unerwartet klar nach diesem stickigen Tag, der eigentlich auf ein Gewitter hoffen ließ, gelegentlich wehte ein kühler Wind durch die Gassen.

 In einer Seitenstraße hatten sie ein kleines Lokal gefunden, vor dessen Eingang auf dem Gehweg fünf Tische mit jeweils zwei Stühlen aufgestellt standen.

 Sie waren die einzigen Gäste. Die Sonne hatte schon eine ganze Weile damit begonnen hinter ihrem Rücken unterzugehen. Aus dem Lokal strömte der Geruch von Kräutern und Essen. Ihre Augen waren noch geschwollen von dem Druck, der sich wegen ihres Aufruhrs am Tag in ihr angestaut hatte und verliehen ihrem Gesicht einen liebenswert trotzigen Ausdruck. Er genoss seine Eindrücke und ihre ihn wie gewöhnlich anrührende Schönheit.   

 

 »Also sag mal, was war denn heute eigentlich los?«

»Ach…, ich weiß auch nicht.«

»Jetzt sag doch schon.«

»Naja, ich finde du musst dich verändern.«

»Aha. Und wieso?«

»Seit zwei Jahren schon.«

»Seit zwei Jahren schon, was?«

»…finde ich, lässt du dich gehen.«

»Seit zwei Jahren schon?«

 Auf der gelblich weißen Wand des Hauses, in der rechts von ihm gelegenen Seitengasse, sah er das orangefarbene, rhythmisch rotierende Licht eines Müllwagens auftauchen, das sich im Wechsel aus Anfahren und Anhalten, langsam in Richtung des Lokals zubewegte.

 Er hörte die prall gefüllten Müllsäcke, die am Rand der Gehwege zur Abholung bereitgestellt standen, in das Innere des Wagens fallen.

»Du bist mir wirklich wichtig. Verstehst du?« sagte sie,

»Ich finde, du solltest deine Zeit nicht damit vergeuden, nach Werten und Maßstäben zu leben, die nur für dich greifbar bleiben.«

»Was genau meinst du denn damit?«.

»Na, Dein ewiges Gerede von Schönheit, von Formen und Linien. Von Gebäuden und Kunstwerken, von Farben, von der Geometrie der Dinge und ihren Mustern. Dein ständiger Unmut, über die Menschen, deine ewige Kritik an den Zuständen, an dem Verhalten der anderen, deine Ablehnung, dein andauernder Tadel und die haltlosen Vorwürfe, die Aburteilungen über das gesellschaftliche Leben. Diese unzähligen Gespräche, die wir darüber geführt haben. Dein ständiges Gehen, dein zielloses Umherwandern, deine richtungslosen Spaziergänge. Dieses Bewegen im Nicht Bewegen. Wenn du nicht arbeitest, oder bei mir bist, dann läufst du herum. Bist du dir dessen eigentlich bewusst? Du tust nichts. Du kannst Schönheit und Harmonie und Ausgewogenheit und Anmut und alles andere was dir sonst noch so wichtig scheint, nicht durch Umherschweifen und Abwarten erreichen. Du musst schon etwas dafür tun

»…aber ich fühle mich doch wohl…dabei…«

»Ja, nur ich würde ungern meine Zeit mit einem Mann verbringen wollen, der, außer in einer steten Bewegung auf einer Geraden die gen Unendlich führt, sich im Nichts verliert.«

 Sie war nun, da der Müllwagen direkt neben ihnen zum Stehen gekommen war, in das rotierende Orange dessen Warnlichts getaucht.

 Sie trug das dunkelblaue Kleid, das er ihr zu ihrer beider zweiten Jahrestag geschenkt hatte.

Ihre Schultern lagen frei, nur berührt von einigen wenigen blonden Strähnen, die sich aus ihrem dichten zusammengebundenen Haar befreit hatten.

 Der Wagen war seitlich neben ihr zum Stehen gekommen, sie hielt in ihrem Gespräch inne, wegen des Motorengeräuschs und des lautstarken Arbeitens der Männer, die sich Tonnen und Säcke reichten und sie wollte nun nicht mehr dagegen anreden.

 Vorwurfsvoll schweigend, ruhten ihre Augen auf ihm, ihr gegenüber, der sie einfach nur anblickte, wie sie dasaß, die leicht sonnenverbrannten Schultern, wegen der aufgestützten Ellenbogen schmal nach oben gebogen, den Kopf leicht zur Seite geneigt, auf das Ende des Lärms wartend, in das nunmehr wie ein um sie loderndes Feuer zitternde Licht getaucht.

 Unweit des Tisches, rechts neben ihm, griff ein Handschuh, viel zu groß für die darin befindlichen Finger, nach einem der schwarzen Müllsäcke, die nun sekündlich von Mitarbeitern des Restaurants nach Draußen gebracht wurden. Einer nach dem anderen, unzählige von ihnen, und für ihn unzählige Male griffen viel zu große Handschuhe in sein Innerstes und holten schwarze Plastiksäcke hervor, voll von Dreck und Abfällen, abgenagten Knochen, zerknüllten Verpackungen, irgendwelchen Ideen und Vorstellungen die er hatte, von dem, wie es weitergehen könnte, mit ihm und ihr und überhaupt, dem ganzen Schindluder und dem Leben, das keinen richtigen Spaß mehr machen wollte.

 Er ließ die Hände greifen und hervorholen, er ließ sich all das von den Schultern nehmen, vor ihren Augen, im Takt der ein und ausgehenden Restaurantangestellten, die unentwegt ihrer geschäftigen Arbeit nachgingen, dem Aufprallen der Tüten im Inneren des Wagens zuhörend, mit einem letzten Glühen der fast verschwundenen Sonne hinter ihrer linken Schulter, ihrem leicht zur Seite geneigten Kopf und diesem orangefarbenen Licht, diesem so unglaublich nervig ein Feuer um ihren Kopf imitierenden Licht.

In diesem Moment, in dem er sich der bezauberndsten Frau gegenüber wähnte, die er jemals zu treffen geträumt hatte, wurde ihm bewusst, dass sie für immer für ihn verloren war und als er trotz allem, die ihn umgebenden Formen und Linien, die gegeneinander arbeitenden Rhythmen der Bewegungen in seinen Augenwinkeln, begann als ein perfekt gemaltes Bild zu sehen, ließ er, während sie ihre Hand nach seinem Arm ausstreckte, begleitet von ihrer nun doch gegen die Motorengeräusche ansprechenden Stimme, die fragte, ob alles in Ordnung sei mit ihm, seinen Kopf auf den nicht leer gegessenen und noch nicht weggeräumten Teller vor sich sinken und sagte:

»Ja.«         


 Die verbleibenden zwei Tage ihres Urlaubs verbrachten sie ohne weiterhin über die Geschehnisse zu reden, aber es war ein Riss in ihrer Gemeinsamkeit spürbar.

Auch wieder nach Hause zurückgekehrt redeten sie nicht noch mal davon. Ihrer beider Leben liefen noch eine Woche vom Alltag erzwungen parallel nebeneinanderher, dann bat sie ihn zu einer letzten Aussprache in ein Café, um sich endgültig von ihm zu trennen.

 »Ich will das nicht mehr, du wirst dich nicht ändern, dessen bin ich mir mittlerweile sicher, du musst deinen Weg gehen, aber ich möchte dir etwas mitgeben, auf diesen Weg… Ich möchte dir etwas schenken.«

»Und unsere nächste Reise?«

»So ist das eben manchmal.«

»Können wir nicht noch einmal darüber reden?«

»Versteh doch, Du machst dir zu viele Gedanken. Immer und überall. Du bist der vollständige Verlust der Distanz zu den Dingen. Ich möchte dir etwas schenken, hörst du? Ich schenke dir eine Pflanze, eine Orchidee, hörst du mir zu? Eine sehr empfindliche Pflanze, verstehst du? Du musst dich um sie kümmern. Hörst du mir zu? Du musst für sie da sein. Und sie gibt dir nichts zurück. Außer ihrer stillen Anwesenheit, ihrem Wachsen, ihrem Schweigen und vor allem ihrer Schönheit... – Man kann nichts von ihr verlangen und eines Tages wird sie einfach eingehen. Mehr gibt sie dir nicht zurück. Du könntest sie auch einfach gleich wegschmeißen, denn es führt ja zu nichts, außer zu dem Einen. Also wenn du keine Lust hast Zeit zu investieren, dann schmeiß sie lieber gleich weg. Aber, wenn du die Zeit aufbringst, wenn du für sie da sein willst und sie pflegst, dann belohnt sie dich. Mit Schönheit. Sie blühen wunderschön. Das musst du dir vorstellen. Und vielleicht bekommst du auch die Schönheit, die du in den Menschen suchst, durch die Zeit, die du dafür aufbringen kannst, ihnen Möglichkeiten zu geben, ohne etwas von ihnen zu erwarten. Du bekommst die Schönheit der Menschen nicht umsonst. Du findest es nicht, indem du stundenlang herumläufst, nicht in den Beobachtungen, die du machst, wenn du in den Cafés sitzt und darauf wartest, dass irgendetwas Dein Leben Bereicherndes von selbst um Dich herum passiert. Du musst etwas dafür tun. Denk darüber nach...Du bist ein wundervoller Mensch, aber bitte habe Verständnis, ich kann mit deiner Art derzeit nicht umgehen. Ich bin nicht so verloren. Noch nicht.«

 An dem Tisch gegenüber ließ ein Kind, auf dem Schoß seiner Mutter sitzend, einen von seinem Speichel triefenden roten Beißring zu Boden fallen.

»Ysabeau,«, sagte er, »ich glaube ich liebe dich.«


 Als er am Abend des nächsten Tages, von einem langen Spaziergang zurückkehrend an seiner Wohnung ankam, stand dort ein mittelgroßer Terrakottatopf mit einem Sprössling darin, in einem Gemisch aus Torf, Rinde und Styropor gepflanzt, vor seiner Tür.  

 An den Topf angebracht war ein Umschlag auf dem: ‚Was zu tun wäre’ geschrieben stand.

 Er nahm den Topf mit in seine Wohnung, öffnete den Umschlag und fand darin einige, von ihr handgeschriebene, Angaben zur Pflege der Orchidee.

 Wo er sie im Raum platzieren sollte, wie er die angemessene Luftfeuchtigkeit in dem Zimmer konstant halten konnte, wie oft er sie mit Wasser versorgen und wie und mit welchem Substrat er sie zu düngen hatte.

 Nach dem Lesen des Zettels, der außer den Anweisungen keinerlei persönliche Worte enthielt, heftete er ihn an die Wand in seinem Flur, strich sorgfältig das Papier glatt und stellte den Topf unter das linke Fenster in seinem Wohnzimmer, da es am weitesten entfernt von den Heizungsrohren lag.

 Draußen war alles still.

Die Dunkelheit kroch langsam durch die Straßen. 

 Aus den benachbarten Wohnungen war kein Laut zu hören. 

 Er ging in die Küche, nahm drei kleine Schalen aus dem Geschirrschrank, füllte sie mit Wasser, kehrte zurück in das Wohnzimmer und verteilte sie akribisch genau auf dem Boden, in einer Dreiecksform, die ihn an den Anfangsbuchstaben Y ihres Namens erinnerte.