Entlang der ganzen Nacht - EIN WARMER WINTERMANTEL

  »Mit der unentschlossenen Liebe zu einem Menschen ist es doch wie mit einem Wintermantel, den man in einem Geschäft zwischen all der anderen Kleidung entdeckt, und man sich dann, aus welchen Gründen auch immer, dagegen entscheidet, ihn zu kaufen. Und ein paar Tage später merkt man, dass man den Mantel doch gerne gekauft hätte. Also geht man zurück in den Laden und muss feststellen, dass der Mantel fort ist. Von jemand anderem gekauft. Alles, was einem dann noch bleibt, ist das etwaige Glück, den Mantel künftig in einem Secondhandladen wiederzufinden, irgendwann. Abgetragen, benutzt – aber immerhin, für weniger Geld. Haha!«
 »Haha! – Ach, mein lieber Freund! Ich bin froh, dich zu haben. Ich bin so froh, dass wir uns kennengelernt haben. Wie kam das noch mal zustande? Wie war das noch? Wie war das noch mal alles? Erinnerst du dich daran?« 
 Beide vierundzwanzigjährig. Angetrunken und euphorisiert von Wein und Single Malt Whisky, selbstgedrehte Zigaretten rauchend, beide der Länge nach hingestreckt auf den sich gegenüberstehenden Sofas, in dem mit ausgeatmetem Rauch verhangenen Wohnzimmer der Wohngemeinschaft, den Blick gegen die Zimmerdecke gewandt, wahllos vor sich hin philosophierend, zumindest so weit es ihnen, in ihrem gemeinsam erlebten Rausch, noch möglich war. 
 »Seit der Schule schon! Seit der fünften Klasse! Mein Freund, ich erinnere mich, ich erinnere mich ganz genau! Du hattest deinen Eltern unterjubeln wollen, dass ich dir das kleine Kreuzchen in den Arm geritzt habe! Du verrückter Hund! Du Verrückter!« 
 »Ja! Ja, natürlich, ich erinnere mich auch!« 
 »Mächtig peinlich war dir das. Bist zu deinem kleinen Kreuzchen gekrochen. Riesen Ärger hast du bekommen.« 
 »Ja, stimmt, das stimmt!« 
 »Da kannten wir uns noch gar nicht wirklich. Hast mich einfach so mir nichts, dir nichts ausgewählt, weil dir gerade niemand Besseres in den Kopf kam. Hättest ja nun jeden nehmen können!« 
 »Ja, richtig! Das ist völlig richtig!« 
 »Hast dich später entschuldigen müssen bei mir, weil dein Vater sich bei meinen Eltern gemeldet hat, und ich hab auch mächtig Ärger bekommen, weil ja auch keiner wissen konnte, was wirklich passiert war.« 
 »Ja, genau so war es! Aber wie ging es dann weiter? Wie war das noch mal? Was passierte dann, was passierte denn dann?« 
»Mein Lieber, du wirst dir noch dein Gehirn wegsaufen, wenn das so weitergeht! – Aha? Du erinnerst dich nicht? Du erinnerst dich wirklich nicht mehr, mein Bester? Wie es war? Na, von einem Mord war plötzlich die Rede! Direkt in unserem kleinen, beschaulichen Städtchen. So war das! Abgemurkst, der Kleine. Und nichts wusste man. Fanden den Kleinen in dem Wäldchen, hinter dem Sportplatz, nahe unserer Schule. Erinnerst du dich denn nicht?« 
 »Natürlich erinnere ich mich! Wie kann man das vergessen? Ich will es nur hören! Ich will die Geschichte hören, danach ist mir zumute! Erzähl doch weiter, erzähl einfach weiter!« 
 »Aber du kennst doch schon alles! Du weißt doch eh schon alles! Du verrückter Hund, du.« 
 »Das ist mir jetzt egal! Gib mir noch etwas von dem Wein und erzähl mir doch die verdammte Geschichte! Erzähl doch einfach!« 
»Also wirklich ein verrückter Hund bist du! Wirklich, du säufst dir noch dein Gehirn weg! Herrgott noch mal …, erzähl’ ich halt die dämliche Geschichte …, zum tausendsten Mal …«.
 Kopfschüttelnd schüttete er seinem Gegenüber noch etwas Wein in dessen Glas, nahm mit einem übertrieben tiefen Luftholen körperlich und geistig Anlauf und begann dann, durchaus widerwillig, zum für ihn gefühlt tausendsten Mal, die Geschichte des Beginns ihrer Freundschaft zu erzählen. 
 »Aaalso…, mein Lieber, muss ja so ein Jahr nach der Sache mit uns wegen des Kreuzchens gewesen sein …, da fanden sie diesen Jungen, tot, in dem Wäldchen, neben dem Feld. 
 War zwei Jahre jünger als wir. Grässlich zugerichtet muss der gewesen sein. Und der Teufel ging plötzlich um. Der wahrhaftige Teufel kehrte ein, in unser kleines beschauliches Städtchen. 
 So misstrauisch waren die Leute plötzlich jedem gegenüber. Waren sich alle sicher, dass es einer aus unserer Mitte gewesen sein musste, der den Kleinen so zugerichtet hatte. Mein Gott! Was waren das für schreckliche Zeiten … so ein grauenvoller Winter. 
 Wir durften bei Einbruch der Dunkelheit nicht mehr vor die Tür und selbst im Hellen zuckte man zusammen, wenn einer von hinten kam. 
 Und dann, eines schönen Tages, tadaaa und bämbäm! Mussten wir zwei Racker nach dem Unterricht noch nachsitzen, haha! Die beiden Haudegen. 
 Hatten unabhängig voneinander unseren Schabernack mit den Lehrern getrieben und Winter war’s ja schon, kurz vor Weihnachten und schnell wurde‘s dunkel. 
 Da kam es also, dass wir zwei gleichzeitig nach den abgesessenen Überstunden in das Untergestell für die Fahrräder auf dem Schulhof kamen und schauten uns erst mal argwöhnisch an. Hatten uns ja noch nie viel zu sagen gehabt, nach der ganzen Geschichte, die vorgefallen war, ein halbes Jahr zuvor, wegen des Kreuzchens.
 Aber dann, wissentlich, dass wir den gleichen Weg zu gehen hatten, den Weg vorbei an dem Wäldchen und dem Ort, wo man den Kleinen gefunden hatte, da kam die Angst in uns hoch und das Wissen um das Glück, doch nicht allein den verfluchten Weg gehen zu müssen. 
 Was für ein schrecklicher, grauenvoll dunkler Winterabend, an dem wir beide gleichzeitig die Schlösser unserer Fahrräder öffneten und die Kälte dabei, diese schreckliche Kälte, die in dem Verschlag das Metall überzogen hatte. 
 Mit Handschuhen konnte man die Schlösser nicht öffnen und dann mit bloßen Fingern ..., Gott, ich erinnere mich, wie alles in diesem Moment eine einzige grausliche Kälte war und ich fürchterlich sauer auf mich war, weil ich völlig unsinnig diesen dämlichen Schabernack getrieben hatte.  – Nun ja …, der Leibhaftige muss es gewesen sein! Wie er eh in diesem Winter über unser Städtchen kam und seinen Spaß hatte, hier und da. 
 Der Vater vom Thomata Georg verstarb in dem Winter, einfach so, auf der Straße zusammengeklappt! Nichts hatten sie später als Grund dafür gefunden. Kerngesund war der!   Vielleicht einfach ausgerutscht und unglücklich gefallen. Es war ja alles voller Eis, in der ganzen Stadt, in diesem Winter. 
 Mit Schlittschuhen hätte man die Straßen abfahren können. Und selbst die Feldwege, so vereist war alles. Zentimeterdick, sodass die Leute, wenn sie sich raus wagten, sich von Laternenmast zu Laternenmast hangeln mussten. 
 Auf allen Vieren sah man die Leute nach Hause kriechen, wie elendiges Vieh. 
 Die Straßen waren voll von Menschen, die wie Vieh daher krochen – wie eine jämmerliche Schafherde – und das Gelache noch zu Anfang, als sich alle wunderten, über's verrückte Wetter und den vielen Schnee und das Eis und wie man sich so auf allen Vieren begegnete und zunickte und jeder darüber Witze machte, dass man sich ganz ungewohnt mal auf allen Vieren auf der Straße begegnete.
 Aber irgendwann verschwand das Lachen und das Zunicken, bei dem ganzen nicht enden wollenden Dreckwetter und dem zu vielem Grau und dem zu vielem Eis und eh alles war einfach zu viel und überhaupt viel zu anstrengend. 
 Da kroch man nur noch schweigend und mürrisch aneinander vorbei und voreinander her. 
 Was für ein grauenvoller Winter … das war ja gar nicht mehr menschlich, was dieser verrückt gewordene Winter unserem Städtchen abverlangte. 
 Die armen alten Leute. Und was für eine schreckliche Beerdigung das dann war, von dem Kleinen, damals, in der Kälte, mit dem eisigen, zugefrorenen Boden, in dem sie kaum das Loch ausheben konnten.« 
 »Ja, ich erinnere mich, ich erinnere mich ganz genau und sehe alles vor mir! Ein fürchterlicher Winter war das …«
 »Die Bäcker Anna hatte eine Totgeburt und dem alten Egon ist sein Hof abgebrannt. So ein bitterer Winter war das. 
 Irgendwie sollte alles nicht sein in diesem Winter. 
Und wir zwei in dem Verschlag, mit den eisigen Ketten, die fast gleichzeitig zu Boden fielen, klirr! klirr! Und dann das Festmachen, um die Stange am Fahrradsitz und das Wissen, dass wir gleich gemeinsam gehen mussten und doch froh waren, dass wir nicht allein gehen mussten und der Atem, neblig und fast gefrierend, und dann endlich hatte man die Handschuhe wieder an, über den vom kalten Metall ganz starr gewordenen Fingern und dazu die Angst vor dem Wäldchen und dem Weg, diese schlimmen Gedanken …- ach, was man alles mit sich herumtragen musste, in diesem Winter.«
»… Und ich sag’ dir, ich war auch froh zu wissen, dass wir den Weg gemeinsam gehen konnten. Sehr, sehr froh war ich darüber – mein Freund.«
 »Ja, und angesehen haben wir uns schweigend und sind einfach zusammen raus aus dem Verschlag und raus in die Dunkelheit und die vom Wind draußen noch viel kältere Kälte, von wo aus man schon das Wäldchen im Dunkel wie Schatten sehen konnte …– und wie uns das Herz ging …– Gesprochen haben wir nicht, aber ich wusste, dass dir genauso zumut' war, dass dir das Herz auch so ging, dass es uns beiden beinahe stehenblieb. 
 Die Fährräder mussten wir schieben, weil man vom Schulhof kommend erst den kleinen Feldweg entlang musste, bis zur asphaltierten Straße. Aber an Fahren war ja eh nicht zu denken, bei dem ganzen Schnee Und der kleine Pfad, wegen der Kälte ganz hart gefroren, mit den vielen Dellen drin, und vereist war ja eh alles, sodass man erst mal an dem Wäldchen auf dem Hügel vorbeimusste, mit den paar wenigen Bäumen, die da seit Jahren immer so unbedarft neben dem Feld und der dahinter liegenden Straße gestanden hatten. 
 So unbedarft und ohne Geschichte standen die immer da, dass man dachte, also diese Bäume, diese Bäume könnten wirklich niemals ein Wässerchen trüben – und jetzt, mit der Geschichte, und weil doch der Junge zwischen ihnen gelegen hatte, da waren die paar Bäume plötzlich wie die vom Leibhaftigen eigenhändig Gepflanzten. Das Böse war in diese Bäume gefahren, der Teufel hatte sich dort sein Nest gebaut, mitten hinein in unsere kleine liebe Stadt. 
 Da in der Dunkelheit den Pfad entlang, von Weitem sah man sieh schon schemenhaft, die paar wenigen, jetzt bösen Bäume, wie ihre Äste im Wind hin und her schaukelten und immer näher kamen wir den wankenden Bäumen und ihren wankenden Ästen, als wären sie zu Vorsicht mahnende Arme: Still, ihr Burschen! So geht doch langsamer! So seid doch still, ihr Törichten! 
Und still waren wir. Keiner von uns sagte etwas. 
 Dabei wär es schon mal an der Zeit gewesen, du dämlicher Hund du, darüber zu sprechen, dass du damals deinen Eltern erklären musstest, woher das Kreuzchen auf deinem Arm kam und weil es dir so unangenehm war zuzugeben, dass du es selber warst, weil du dachtest, nur Verrückte machen so was, die stecken dich sofort ins Heim für Irre Gewordene, dachtest du. Aber dein Vater, der hatte am Abend das kleine pochende Kreuzchen, was nicht so recht verheilen wollte, auf deinem Arm entdeckt, da hattest du ihm einfach erzählt, einer aus der Schule sei es gewesen und aus irgendwelchen Gründen, ja, aus welchen Gründen eigentlich? Aus welchen Gründen eigentlich? Denk mal darüber nach! Du hättest doch wirklich verdammt noch mal jeden nehmen können! Und dann legt der Zufall dir meinen Namen in den Kopf! Das konnte doch nicht mit rechten Dingen zugehen! Nein, nein, nein! Da waren höhere Mächte am Werk. Je mehr ich darüber nachdenke, Teufel noch mal, es musste so sein, verstehst du? Es musste alles genau so sein!«
 »Ja, verdammt, recht hast du! Alles musste genau so sein. Wie seltsam die Dinge doch manchmal sind …«
 »Und dann losgerannt sind wir! Wie vom Leibhaftigen in den Arsch gebissen! Einfach gleichzeitig ab durch die Mitte, weil es uns nicht mehr gehalten hat, weil das alles viel zu viel war, da an dem Wäldchen vorbei, nicht auszuhalten war das mehr! Und weg, so schnell wie möglich, nur weg! Hingefallen sind wir, auf der vereisten Erde, über uns gestolpert, immer mit den Händen am Fahrrad, die Knie und Schienbeine haben wir uns aufgestoßen, so oft sind wir über uns hinübergefallen, beim Rennen an dem Wäldchen vorbei und geschrien haben wir, so laut, dass man es in der ganzen Stadt hören konnte und die Leute hielten an, auf den Straßen wegen des Geschreis, wie sie sich da auf allen Vieren entgegen krochen und schauten erschrocken in Richtung des Wäldchens: »Nicht schon wieder«, hoben sie bittend die Arme gen Himmel »bloß nicht wieder eines von den Kindern«, weil wir so laut geschrien haben, weil die Angst doch irgendwohin und hinausmusste und weil in diesem Winter jeder aufschreckte, wenn Schreie von Kindern so plötzlich aus der Dunkelheit gellten. 
 Sie kamen zum Wäldchen gekrochen, bei all dem zentimeterdicken Eis, weil sie sich darüber vergewissern wollten, was passiert war – bestimmt dreißig an der Zahl, krochen den Hügel hinauf in der Eiseskälte …, aber als sie ankamen, da waren wir schon über alle Berge – und sie fanden nichts, außer den im kalten Wind vor sich hin schwankenden paar Bäumen, die schon längst wieder wirkten, als konnten sie niemandem etwas zu leide tun. Herrje, die paar wenigen Bäume da auf dem Hügel …– und weil es allen schlussendlich reichte, weil es irgendwann auch mal gut ist, weil eh alles viel zu viel war, in diesem völlig vermaledeiten Winter, haben sie das ganze verdammte böse Wäldchen innerhalb der nächsten Tage auseinandergenommen und ihm den Garaus gemacht. 
 Drei Tage lang. 
 Drei Tage lang konnte man das Heulen der Motorsägen hören, wie ein Schwarm wütender, riesenhafter Wespen, die dabei waren, in dem Wäldchen ihren Verstand zu verlieren. 
 Selbst in der Nacht war es zu hören, das Knattern und Aufheulen der Motoren beim Aufsetzen der Sägeketten an die Stämme. Das langsame Ächzen der irgendwann nachgebenden, einknickenden Bäume, wenn der Fall nicht mehr aufzuhalten war. Wie sie sich der Schwerkraft hingeben mussten. Das erschöpfte letzte Ausatmen der Blätter, wenn die Baumkronen endlich zu Boden gingen und aufschlugen. Das Hacken der Äxte, im Rhythmus der Schläge der Männer, die dort schufteten … – Drei volle Tage hörte man dabei zu, wie der Teufel kreischend und jammernd in seine Einzelteile zerlegt wurde. 
 Zerhackstückelt, des Satans Ausgeburt – und das völlig zu Recht! So muss man es schon sagen …   – und dann …, ja, dann …, wurde es ganz still – und eine angenehme Stille war das. Nach dem ewigen Gekreisch der Sägen und dem Geknatter der Traktoren, die das Holz wegschafften. 
 Eine ganz wundervolle, berückende Stille, die sich in einem selbst und der ganzen Stadt ausbreitete und das Eis langsam verschwinden ließ und das Misstrauen und mit der Angst auch den kalten Wind …– und dann, irgendwann, war es fast unbemerkt Frühling geworden. 
 Und danach wurde es ein herrlicher, warmer Sommer. Mit seiner späten Dunkelheit und den vielen Tagen und Abenden am See, die wir zusammen mit den anderen verbrachten – als Freunde.« 
»… Ja, wirklich …, ein herrlicher Sommer wurde das damals dann noch …«             
 
  Am nächsten Morgen. Beide waren in Erinnerungen an alte Zeiten eingeschlafen. 
 »Jetzt schau sich einer mal deine Schuhe an …«, lachte der eine, der schon wach war und stehend seinen Freund betrachtete, der immer noch liegend, seine für das Sofa zu langen Beine und die zum Schlafen nicht ausgezogenen, völlig verdreckten Schuhe über die Lehne hängen ließ. 
»Die sind ja völlig hinüber! Die Sohlen haben Löcher und hinten sind die Hacken fast bis zum Leder heruntergelaufen. Die solltest du mal schleunigst zu einem Schuhmacher bringen, mein Bester!«
 »Die sind schon noch völlig in Ordnung!«, schnaubte der andere verächtlich zurück. 
 Durch das geöffnete Fenster, von der Straße zu ihnen hinauf, drang plötzlich ein ohrenbetäubender Lärm, wie von kreischenden Motorsägen. 
 Mit offen stehenden Mündern und vor Schreck geweiteten Pupillen starrten sie sich gegenseitig an. 
 Die beiden Freunde einigten sich schnell darauf, dass es mehrere Motorräder gewesen sein mussten, die gleichzeitig laut aufheulend anfuhren, nachdem die Ampel an der Kreuzung, direkt unterhalb der Wohnung, auf Grün umgesprungen war.