Entlang der ganzen Nacht - ERZÄHL MIR VON DEM KREUZ

»Also, das Kreuz. Erzähl mir davon.«, sagte sie und strich mit ihrer Zungenspitze über die rötlich gefärbte Narbe, in der Form eines kleinen Kreuzes, auf seinem Unterarm. 

 »Da gibt es nicht viel zu erzählen, mein Engel, mein Schatz.« 

 Nackt, wie sie beide waren, verliebt, die Körper feucht vom noch vor kurzer Zeit vollzogenen Beischlaf, gerade mal eine Viertelstunde her. Die Luft säuerlich, von genitalem Geruch und ihrer beider Schweiß. 

 Durch das einen Spalt geöffnete Fenster, aus der Nacht zu ihnen herauftönend, die Schritte von Betrunkenen, Heimkehrenden, Aufbrechenden, deren Lachen, das Übergeben, das Zetern.

 Das Da Unten, ihrer Kontrolle entzogen, an ihnen vorbeiziehend, ging sie beide, in ihrem geschützten Raum, nichts an. Es ließ sie kalt, vertiefte ihre gefühlt unantastbare, in sich zufrieden ruhende Zweisamkeit. 

 »Also, das Kreuz. Erzähl mir davon.«, sagte sie nochmals und strich mit ihrer Zungenspitze,  über die rötlich gefärbte kleine kreuzförmige Narbe auf seinem Unterarm. 

 »Da gibt es wirklich nicht viel zu erzählen, meine Süße, mein Roter Wein, mein Elixier, du und dein schöner Körper.«  

  Nackt, wie sie beide waren, noch betäubt von den Berührungen, dem Aufmachen, dem Zulassen, gerade mal zwanzig Minuten her, die Luft schwer, vom Atmen, von dem Unausgesprochenen, als Wasser in kleinste Teile zerlegt, sich Wege suchend, durch die Spalten und Risse in dem bröckelnden weißen Putz an den Wänden, um hinauszufinden, zu denen, die unten gingen, unentwegt, lachend, palavernd. 

 »Es erinnert mich…«, sagte er dann, »es erinnert mich an das, woran ich glauben wollte.« 

 »Woran wolltest du denn glauben?« 

 »Ich wollte an Linien und Formen glauben… – und an die Schönheit, die man durch sie erschaffen kann.« 

 »Was bedeutet das?« 

 »Im Grunde nichts.« 

 »Versuch es mir zu erklären…, erklär es mir doch…«

 Wieder verging einige Zeit in der nur Geräusche durch den Fensterspalt zu ihnen heraufdrangen. Das feiste Lachen, die schnellen Schritte, das Kläffen der Hunde, das irgendwo Hingehen, der gemeinsame nicht überhörbare Austausch von Anderen, und sie waren froh, dass sie nicht Teil davon waren – nicht daran teilhaben mussten. 

 »Nun…ich erkläre es dir…ich versuche es…« – 

 Er hielt kurz inne, und begann zu erzählen: 

 »Ich nehme Dich und alles in Linien war. 

Du bestehst aus Linien. Für mich zumindest. Sie kreuzen sich, sie entfernen sich voneinander, sie finden zusammen. Wie ein Muster, eine Zeichnung.« 

 »Versuch es mir zu erklären.« 

 »Ich versuche ja es dir zu erklären…« 

 »Ja, bitte…versuch doch es mir zu erklären.« 

  »Ich nehme es so wahr, also rein oberflächlich…vorerst…Du bestehst aus Anordnungen, von Dreiecken und Quadraten und Kreisen, sie fügen sich ineinander, sie decken sich zu, sie schaffen sich gegenseitig Raum, sie ergänzen sich. 

 Die Anordnung all deiner Bestandteile, die Geometrie deiner Einzelteile, sie deckt sich mit meinen Vorstellungen von Alldem, was ich schön finde. Das sehe ich in Dir. Sich mit dem deckend, was mich seitdem ich schauend durch die Welt gehe, geprägt hat. Es ist alles da. Ich sehe dich und Alles in Anordnungen aus Linien – in sich verschlungen. Es ist wundervoll.

 Und ich kann diesen Linien folgen – wenn ich darf.

 Sie führen irgendwohin. 

 Und dann folge ich diesen Linien, die im Grunde, für sich allein, nichts bedeuten, aber ich folge ihnen, dorthin, wo das Unter Den Linien liegt. Dorthin, wo die Linien nicht relevant sind, sie sind nur dazu da, mich dorthin zu bringen. Dorthin gehe ich dann und lasse mich dabei von den Linien leiten. 

 Dann betrete ich das Unter Den Linien, sozusagen, die Wirklichkeit – wie einen Raum – und dann schaue ich mich um. 

 Umgeben von all diesen Linien, die für sich genommen Nichts und Alles bedeuten – und ich schaue mich staunend um – und Jeder und Alles in Sich, ist auf seine Art schön. 

 Jeder für Sich – eine Anordnung, einzigartig. 

 Egal wie, einzigartig. Ein Raum.« 

 »Bitte…, erklär es mir…«, fragte sie nochmals und eigentlich nur, weil sie es mochte bei ihm zu liegen und seine Stimme zu hören, während sie mit ihrem Körper neue Lücken in seinem Körper suchte, um näher, noch näher, bei ihm zu sein. 

 »Es ist so…, also, ich denke…im Grunde zweifle ich an Menschen - irgendwie …, das glaube ich zumindest manchmal. Also mich eingeschlossen. Mich verabscheue ich eigentlich am meisten. 

  Menschen richten so viel seltsame Dinge gegen sich - und miteinander an – ich verstehe es nicht. 

 Ich sehe uns so fürchterlich angestrengt Dinge verrichten. Ich beobachte uns. Ich erkenne unsere angelernten Bewegungen, unsere eingeprägten Grimassen, die nachgeahmten Regungen. Die funktionierenden Körper, die stierenden Augen.  

 Ich nehme die Kleinigkeiten war – und ich hasse es – was fürchterlich ist. 

 Ich würde lieber Gar Nichts wahrnehmen. 

 Ich hasse die Zurückhaltung, das Nachgeben, das Sich Einfügen. Und mein eigenes Unvermögen in diesen Dingen. 

 Es verstärkt dieses Gefühl noch zusätzlich. 

 Ich wünschte mir sehr, es wäre nicht so…, aber – weißt Du, damals, an dem Tag, an dem mein Großvater starb, da gab es einen irgendwie für mich wichtigen Moment in meinem Leben. 

 Ich war sehr spät noch aus dem Fenster meines Zimmers, im ersten Stock unseres Hauses gelegen, in die Nacht hinausgestiegen. 

 Ich hatte da so einen Weg, an der Aussenwand, an so einem Gerüst für Pflanzen, entlang.

 Ich weiß nicht mehr, was meine Eltern dort wachsen lassen wollten, Kletterrosen, oder so Zeugs, wahrscheinlich – aber ich hatte eben diesen noch nicht von Pflanzen bewachsenen Weg, an diesem hölzernem Gerüst hinab, den ich immer nutzte, wenn es mir zu eng wurde in meinem Zimmer und meine Eltern schliefen, oder unten vor dem Fernseher saßen. 

 Also, ich bin dieses Gerüst hinuntergestiegen, raus in die Nacht und ging umher, weil mir halt danach war. 

 Es war sehr dunkel in dieser Nacht, wahrscheinlich weil auch der Mond nicht wirklich schien und ich lief vorbei, an den wenigen Häusern unseres Dorfes – und sah in die Fenster hinein. Also, beim Vorbeilaufen. 

 Ich wollte es nicht, aber ich musste in diese Fenster hineinsehen. 

 Ich wollte verstehen, was dahinter passierte…– Schläfst du, schläfst du schon?«

 »Nein, nein, ich höre dir zu. Ich bin hier. Und ich höre dein Herz schlagen, wie ich hier liege. Es schlägt und es ist gut. Und ich höre dir zu.« 

 »Also, ich bin dieses Gerüst hinuntergestiegen und bin dann raus in die Nacht, rein in das Dorf mit seinen Häusern und bin ran an die Fenster, die zu den Häusern gehörten und sah in sie hinein. 

 Ich habe mich nicht wohlgefühlt dabei, aber ich konnte nicht anders. 

 Die Straßen waren leer und still und die Lampen standen still und leuchteten, einfach so, vor sich hin, wie jetzt vielleicht mein Herz einfach so vor sich hinschlägt, haha.« 

 »Haha.«, lachte sie zurück. 

 »…Ja…Und dann sah ich so ein richtig großes Fenster, vom Boden bis, ja, bestimmt weit über mannshoch reichend, so ein großes, wirklich großes Fenster, mit einer sehr dünnen milchigen Gardine davor, so dünn, dass man, obwohl sie zugezogen war, in das Innere des Raumes blicken konnte.       

 Diese Gardine, die brachte gar nichts. 

 Also, als Schutz vor einem, der da reinschauen wollte, in der Dunkelheit und dem Licht dahinter, das in dem Haus war. 

 Man konnte ganz einfach durch sie hindurchsehen. Ich bin nah ran, an das Fenster, was mutig war, denn ich war schon sehr nah dran, so nah, dass man hätte sagen können: da traut sich jetzt aber mal einer was. 

 Der ist jetzt aber schon ganz schön weit gegangen…, da spielt einer mit dem Feuer gerade, dass er da so nah ans Fenster rangeht. Aber…– Du… schläft du? Schläfst du schon?« 

 »Nein, nein. Ich bin hier. Ich höre dir zu. Ich bin hier und höre dir zu.« 

 »Also, hinter dieser Gardine, da sah ich einen Raum. Ein Wohnzimmer offensichtlich. 

 Eingerichtet mit Möbeln und allerhand Zeug. 

 Irgendwo mussten auch die Leute gewesen sein, die in diesem Haus lebten, da ja Licht brannte und es, naja, irgendwie belebt wirkte, aber in diesem Moment war niemand zu sehen, in diesem Raum. 

 Die Kinder schliefen vielleicht schon. 

 Also, ich ging davon aus, dass da auch Kinder in dem Haus waren, denn es war ja ein sehr großes Haus und ich dachte, für einen allein, oder für zwei, wäre das dann schon ein sehr großes Haus… – 

 Naja, jedenfalls sah ich also durch die Gardine in diesen Raum. 

 Da stand so eine Kommode, aus dunklem Holz, so ein sehr mächtiges Ding, links an der Wand – und ihr gegenüber stand ein Tisch, ein auffällig schöner, großer Tisch, auch aus dunklem Holz. 

 Der war so groß, dass man sicher davon ausgehen konnte, dass da nicht nur zwei drinnen waren, oder jemand alleine, in diesem Haus. Also, ungefähr so groß war dieser Tisch. 

 Ja und der Boden, der war mit weißem Teppich ausgelegt, also, ich erinnere mich, fast so wie Schafswolle, aber weniger robust, eher samten. 

 So ein guter weißer Teppich eben, über den man absolut niemals mit gerade noch getragenen Straßenschuhen gehen würde.

  Immer nur barfuß - so vorsichtig, irgendwie, mit gewaschenen Füßen, oder mit frisch gewaschenen Strümpfen, oder den Hausschuhen - also zumindest, andächtig.

 Weil einem wahrscheinlich, als Erstes in diesem Haus  

beigebracht wird, dass man nie und nimmer,  auf 

keinen Fall, unter gar keinen Umständen, über diesen weißen Teppich, mit eben noch getragenen Straßenschuhen gehen darf.«

 »Haha…«, lachte sie.

 »…und mir gegenüber, also gegenüber meiner Stelle, an dem Fenster, von der aus ich in diesen Raum hineinschaute, da stand so eine weiße Kerze. 

 So ein richtig dicker Brocken von Kerze, ja, bestimmt so kräftig wie eine halb ausgewachsene Birke. Die flackerte da still vor sich hin. In diesem Raum, in dem die Menschen nicht waren, die sicherlich in diesem Haus lebten. 

 Beziehungsweise, die Kerze flackerte gar nicht wirklich. Sie stand im Grunde einfach nur da, von jemandem aus dem Haus genau dorthin gestellt. 

 Naja, beziehungsweise die Flamme stand. Also, im Grunde genommen, bewegte sich die Flamme gar nicht, weil ja niemand in dem Raum war, in diesem Moment, mit der Kerze und an ihr vorbeiging – und man flackert ja auch gar nicht, wenn niemand an einem vorbeigeht. 

 Nichts flackerte an dieser Kerze, die von jemandem, in diesem Haus, genau dorthin gestellt worden war.  

 Diese Kerze, mit ihrer Flamme, die von jemandem in diesem Haus entzündet worden war, stand da – und zudem konnte da ja auch gar nichts anderes noch groß durch den Raum zum Beispiel wehen, oder so, und  Bewegung in die Flamme bringen, weil, die Fenster waren ja auch geschlossen. 

 Also, ich sah durch das geschlossene Fenster und sah diese Dinge und noch Anderes an Einrichtung in diesem Raum rumstehen. 

 Ecken und Kanten, Längen und Breiten, und wie sie sich einfügten, in diesen Raum, in den sie hineingestellt worden waren, von irgendwem, der sich, wahrscheinlich, in diesem Moment, irgendwo in diesem Haus aufhielt, oder Sonstwem, dem diejenigen, die sich in dem Haus aufhielten, gesagt hatte, wo die Dinge hinzustellen waren.

 Wie auch immer, diese Stille in dem Raum, und dass da nur diese Ecken und Kanten waren und dann keiner, einfach so gar keiner dort war, der da hindurchlief, niemand, der sich etwas zu trinken holen wollte, da er oder sie gerade Durst verspürte und trinken musste, weil er oder sie wusste, dass es nicht gut ist, zu wenig zu trinken, dass es dem Körper und dem Denken einfach nicht gut tut, oder einer oder eine, der oder die, sonst wie, wie auch immer, Leben in diesen Raum bringen wollte, einfach geradewegs zu dieser Gardine hinlaufen wollte, um sie aufzuziehen, um direkt in mein Gesicht zu blicken, weil da jemand, so mir nichts dir nichts, ungefragt, hinter dem Fenster in den Raum glotzt… – 

das Alles machte mich unendlich fertig. 

 Und da wurde mir bewusst, dass ich beizeiten nie ein Raum sein will, durch den sich niemand oder nichts bewegt. 

 Nie und nimmer mag ich nur ein Raum sein, in den irgendjemand, lediglich nur etwas hineinstellt und dann dort nicht mehr hindurch geht. 

 Diese unbewegte Stille. Das muss man sich mal vorstellen. So seltsam es klingen mag, aber ich möchte unbedingt, dass es möglich ist und bleibt, dass jemand durch mich hindurchlaufen kann. Verstehst Du? 

 Ich will nicht nur ein Raum sein, in dem einfach etwas steht – und keiner will hindurch. 

 Und ich selbst will auch durch Räume hindurch gehen. 

 Wenn man alles nur hinnimmt, wie es irgendjemand hineingestellt hat, wenn man sein Leben einfach so als von jemandem vollgestellt akzeptiert, oder das Gegenüber nur danach bewertet, was in es hineingestellt wurde, ohne sich gegenseitig durch die eigenen Räume gehen zu lassen, dann betrachtet man sich doch nur selbst, wie in einem Schaufenster. Oder nicht?

 Nichts kommt mehr in Bewegung dadurch, oder?

 Man darf sich nicht zu viel selbst betrachten. 

 Ich glaube, es ist ein großer Fehler, wenn man sich zu viel selbst betrachtet. Und nicht andere auch hindurchgehen und vielleicht, im besten Fall, sich staunend umschauen lässt. 

 Aber man muss dafür ja eben auch andere in sich 

hineinlassen wollen und können und dürfen.

 Und wenn man in einem Raum ist, der zu jemand anderem gehört, dann bekommt man vielleicht irgendwann einen kräftigen Durst und man weiß ja, dass es einem nicht gut bekommt, wenn man zu lange zu durstig ist, und dann muss man endlich durch diesen Raum durch und sich sein Glas Wasser holen, und dabei vielleicht eine Kommode umstellen, bis ein anderer sie wieder woanders hinstellt – und die Flamme einer Kerze, die in dem Raum steht, in Bewegung bringen – und dann will man vielleicht zum Fenster gehen, weil man ahnt, oder spürt, rein intuitiv, dass man genau in diesem Moment, diesen dünnen Vorhang zur Seite ziehen sollte, weil da einer vor dem Fenster steht und hineinschaut und vielleicht auch hinein will, in diesen gleichen Raum.  

 Verstehst du? 

 Langweile ich dich? Schläfst du schon?«

 »Nein, nein«, sagte sie, »ich versuche nur zu verstehen, was du mir erzählst. Ich verstehe es glaube ich nicht…ganz… Vielleicht bin ich aber auch einfach nur zu müde. Aber dein Herz schlägt. Und es ist gut. – Aber…, bist du denn noch in diesen Raum hinein…, an diesem Abend…? Hat es dich da noch hineingezogen? Hast Du Dich das getraut?« 

 »Nein, nein!…Das ich habe mich natürlich nicht getraut! 

Das hätte ich mich nie getraut! - Aber dieser Sog, das Gefühl, dieses Drängen machte mich beinahe verrückt. 

 Gott, wie gerne wäre ich da einfach rein und durch diesen Raum gegangen. Aber das konnte ich ja nicht! Dafür hatte ich einfach zu viel Angst…, davor, dass man mich entdecken könnte. 

 Aber in diesem Moment, hätte ich nichts lieber getan, als Bewegung in diesen Raum und in diese Flamme zu bringen. – 

 Mmh…, warte, ich erzähle dir noch eine Geschichte, ja?« 

»Ja, bitte...Erzähl mir noch eine Geschichte. Damit ich gut einschlafen kann...«, erwiderte sie.   

»Es war einmal.« 

 »Es war einmal...Ja? Und weiter?«   

»Ja, das war es schon.«, lachte er. 

 »Wie? Es war einmal?« 

 »Das war die ganze Geschichte…, denk mal darüber nach.« 

 Ein Kuss auf ihre Stirn, der Geruch ihrer Haare, ein feistes betrunkenes Lachen, durch den Spalt des geöffneten Fensters von der Straße hallend.   

»Du…, schläfst du schon?«